Tottenham Hotspur - Sheffield United 2:0 (22.8.06, Premier League)

Der Eath Stand (rechts) von innen... "Immer wenn auf unserer Seite knapp daneben geschossen wurde, taumelte die Menge nach vorne. Ich wurde gezwungenermaßen sieben oder acht Stufen die Tribüne hinunter gespült (...) Ich liebte die Nordtribüne, ganz klar. Die Bewegungen wuchsen mir ans Herz, die Art, wie ich in Richtung Spielfeld geschleudert und dann zurückgesaugt wurde". Was Nick Nornby hier beschreibt, ist Teil der englischen Fankultur - nicht nur bei "seinem" Klub Arsenal, sondern überall auf der Insel. Einer Fankultur, die inspirierend auf das übrige Europa wirkte und dennoch einzigartig war - und leider längst Vergangenheit ist.

Wie lange diese Zeit zurückliegt, zeigt ein Besuch bei Arsenals Nachbarn Tottenham an der White Hart Lane. Das fängt schon eine Stunde vor dem Spiel gegen Sheffield an: Erst wenige hundert Zuschauer haben sich im Stadion eingefunden, einer davon stützt seinen Fuß auf die Lehne des Vordersitzes. Es dauert keine Minute, da ertönt aus dem Unterrang der drohende Ruf eines grimmigen Ordners: Fuß runter, aber schnell! Kurz nach Anpfiff begeht ein weiterer Zuschauer - ich - die Schandtat, ein Foto zu schießen. Keine zehn Sekunden später zupft ein Steward an meinem Ärmel: "No photos during the game". Aha. Während der Partie schließlich sind die Ordner pausenlos damit beschäftig, stehende Menschen (Skandal!) zum Sitzen zu bewegen. Passend dazu läuft in der Halbzeit ein Clip mit der belehrenden Aussage "Sit down if you love football." Stehen im "Stand"? Das war einmal.

Klare Verhältnisse auf dem Rasen

...und von außenWas die 35.287 Zuschauer an der nahezu ausverkauften "Lane" sich (noch?) nicht verbieten lassen, ist jedoch das lautstarke Singen. Wie auch: Am zweiten Spieltag ist Sheffield United - nach zwölf Jahren endlich wieder erstklassig - zu Gast, und wird förmlich überrollt. Der Ex-Leverkusener Dimitar Berbatov (7.) und Jermaine Jenas (16.) sorgen mit ihren Toren nicht nur schnell für klare Verhältnisse, sondern auch für eine ausgezeichnete Athmosphäre. Die etwa 2500 mitgereisten Anhänger der Blades erholen sich während des gesamten Spiels kaum von diesem Schock und deuten ihr Potenzial nur an. Gleiches gilt für die United-Elf auf dem Platz, die deutlich unterlegen, mit dem 0:2-Endstand gut bedient und im Oberhaus weiterhin ohne Sieg ist.

Die White Hart Lane ist einer der klangvollsten Namen im Ohr des deutschen Fußballfans - nicht zuletzt dank Jürgen Klinsmann, der hier 1994/95 vom ungeliebten Schwalbenkönig zu Englands Fußballer des Jahres aufstieg. Gekickt wird hier bereits seit 1899, nachdem die 1882 gegründeten "Spurs" zuvor im benachbarten Northumberland Park spielten und von dort auch ihre erste Holztribüne mitbrachten. Der wachsende Erfolg, aber auch das große Highbury des Rivalen Arsenal, machten einen schnellen Ausbau notwendig.

Das Erbe des Archibald Leitch

Wer sonst als Archibald Leitch begab sich ans Werk: 1909 schuf der Schotte die erste "richtige" Tribüne - natürlich mit dem für ihn typischen Giebel, den er aus einer Laune heraus mit einem Hahn verzierte. Das bis heute gültige Symbol des Klubs war geboren. Leitch designte auch die Dächer des Paxton Road End (1921) und des Park Lane End (1923), ehe 1934 mit dem East Stand sein Meisterwerk folgte: Gebaut als Doppeldecker mit vorgelagerten Stehplätzen - ebenfalls ein Leitch-Klassiker - fanden alleine dort 24.100 Zuschauer Platz. Auf den 11.000 Stehrängen in der Mitte entstand später die berühmte Fankurve "The Shelf". Der Zuschauerrekord stammt aus dem März 1938, als 75.038 Fans Zeuge des Pokalspiels gegen Sunderland wurden.

Doch wie bereits erwähnt hat alles Schöne einmal ein Ende. In Tottenham wurde der Abschied von der alten Holzkonstruktion 1985 mit dem Feuer in Bradford eingeläutet. Nicht nur der Hahn wurde durch eine modernere Variante ersetzt, auch eine alte Tribüne nach der anderen verschwand - bis 1994 aus der White Hart Lane endgültig ein All-Seater enstanden war. Der East Stand, immerhin, hat mit seiner Backsteinfassade (s.Foto) ein Stück Leitch behalten. Die Ironie: Gerade dieser Teil des Stadions ist es, der den Klub immer wieder laut über einen Neubau nachdenken lässt. Hoffentlich bleibt es bei dem Gedankenspiel.

Die moderne Fassade im Westen Überblick über die White Hart Lane Einfache Gleichung